«Nid jufle»: von der Berner Langsamkeit
Ihrer nachgesagten Bedächtigkeit zum Trotz haben Berner und Bernerinnen ein paar nicht unwesentliche Pioniertaten vollbracht. Einfach gemütlich scrollen, um es zu erfahren. Bild: zvg

«Nid jufle»: von der Berner Langsamkeit

28. Juni 2016 – von Franziska Richard

Nid jufle, also nicht hetzen. Das haben Berner ‒ so das Klischee ‒ geradezu verinnerlicht. Ein Klischee, das seit geraumer Zeit allerdings keines mehr ist. Sie gehen und sprechen, wie Studien zeigen, tatsächlich langsamer als andere Menschen dieses Planeten.

In Bern kommt es vor Lichtsignalen immer wieder zu Regelverstössen. Die Fussgänger der Hauptstadt schaffen es nicht immer rechtzeitig, im schweizweit normierten Tempo – nämlich 1,2 Meter pro Sekunde – über den Fussgängerstreifen zu kommen. Auf dieses Tempo sind landesweit die  Lichtsignale eingestellt.

Bis vor Kurzem galt die bernische Gemächlichkeit und Gemütlichkeit als liebenswertes Klischee. Doch nun kommt zum zitierten statistischen Ausreisser eine wissenschaftlich erhärtete Tatsache hinzu. Die physische Langsamkeit der Berner ist durch eine weltweit angesetzte Studie bestätigt. Eine Forschergruppe um Richard Wisemann von der britischen Universität Hertfordshire untersuchte das Fussgängertempo in 32 Städten. Beim Durchschnittsberner wurden 1,05 Meter pro Sekunde gemessen. Damit landete Bern auf dem drittletzten Platz. Nur gerade die Manamaer (Bahrain) und die Blantyrer (Malawi) benötigen mehr Zeit für diese Strecke. Die Weltspitze in Singapur kommt fast doppelt so schnell voran.

Schlendrian im Blut

Die Studie löste breites Medienecho aus. Berns Stadtpräsident Alexander Tschäppät liess sich nicht beeindrucken. Jufle sei keine Qualität, liess er ausrichten; und Langsamkeit habe nichts mit geistiger Trägheit zu tun. Der Ursache des Phänomens gingen die Forscher nicht auf den Grund, auch die  Berner können nur spekulieren. Vielleicht sei es eben ein Ausdruck von Lebensqualität, finden einige, Stadtberner sehen in praktischen Hindernissen wie den tempodrossenden Lauben (Arkaden) Berns die Ursache, wieder andere finden, man habe sich über die Jahrhunderte dem Urcharakter des Bären (schliesslich das Wappentier) angeglichen.

Langsames Parlieren

Schneller als ihre Beine ist schliesslich auch ihre Zunge nicht. In aufwendigen Studien haben Sprachwissenschaftler der Universität Bern herausgefunden, dass die Berner signifikant langsamer sprechen als andere. Das haben die Mundartforscher Beat Siebenhaar und Adrian Leemann im Nationalfondsprojekt zur «Prosodie der Schweizer Mundarten» untersucht. Befragt wurden Gymnasiasten aus Brig, Zürich und Bern. Die Aufnahmen hat ein Computerprogramm in ein Spektrogramm verwandelt, in dem Wörter in einzelne Laute zerlegt und gezählt werden können. Den Wallisern kommen pro Sekunde 5,8 Silben über die Lippen, den Zürchern 5,9. Bei den Bernern sind es gerade mal 4,9. So geraten sie pro Minute in einen Rückstand von 60 Silben, auf die Stunde gerechnet sind es schon 360. Wir wollen nicht wissen, was dies auf ein Leben ausmacht, in welches Silben-, Wort- und Satzdefizit sie sich hineinmanövrieren, nur weil auch hier Tempo nicht zählt. Ja, warum nicht? Adrian Leemann und Beat Siebenhaar kennen die Antwort: Sie begründen es damit, dass im Berndeutschen die Laute am Wort- und Satzende mehr gedehnt werden als im Züridütsch und Walliserdiitsch. Berner würden somit längere Pausen machen. Gleichzeitig ist das Walliserdiitsch melodiöser als das Bärndütsch, insofern als die Frequenzkurve stärker ausschlägt, was übrigens auch für die Dialekte im Berner Oberland gilt. Das gibt den Zuhörern das Gefühl, dass im Wallis und im Berner Oberland nicht gesprochen, sondern gesungen werde. Unergründet bleibt, warum die Berner so lange auf den Silben sitzen bleiben und ob sie am Ende auch langsamer denken. Davon gehen die Linguisten allerdings nicht aus.

Nicht hetzen, sondern geniessen. Dies scheint auch das Motto dieses in sich ruhenden Berners zu sein. Bild: Christian Aeberhard
Nicht hetzen, sondern geniessen. Dies scheint auch das Motto dieses in sich ruhenden Berners zu sein. Bild: Christian Aeberhard

Gemächlichkeit als Lebensqualität

Das Image der Gemütlichkeit wird der Kanton Bern und die Hauptstadt so schnell nicht los. Es scheint deren Bewohnern allerdings ganz recht zu sein. Im Zeitalter der Slow-Bewegung kokettieren sie geradezu mit ihrer Langsamkeit. Wen wundert es beispielsweise, dass die Internetadresse www.schneckentempo.ch von einem Berner besetzt ist, der auf seiner Homepage von 21 Ländern erzählt, die er mit dem Fahrrad als einem der langsamsten Fortbewegungsmittel bereist hat; dass das langsamste Velorennen in Bern ausgetragen wird und dass die Berner Tänzerin und Choreografin Susanne Daeppen ihre Workshops der Kunst der Langsamkeit verschrieben hat.

Trotz der Schnecke, mit welcher man sich in Bern zu identifizieren scheint, tragen Stadt und Kanton den Bären im Wappen. Die Volkssage, wie die Stadt zu diesem Tier kam, geht so: Die Begründer Berns waren sich einig, dass das erste Tier, das auf der Jagd erlegt wird, der Stadt den Namen geben soll. Es war ein Bär. Mit heraushängender Zunge und gemächlichem Schritt ziert er seither die beiden Wappen. Geniessen kann der Bär, so sein Image, schliesslich auch. Das hat sich vor nicht allzu langer Zeit auch die Berner Versicherung (heute Allianz Suisse) in ihrer Werbung zunutze gemacht. Genuss war noch nie «öppis zum Jufle». Doch in entscheidenden Momenten kann der als gemächlich und gutmütig geltende Bär auch seine Krallen zeigen. Das Tierlexikon sagt schliesslich auch, dass der Bär seine Gangart enorm beschleunigen kann: 50 Kilometer schafft er in der Stunde, wenn es nötig ist und wird. Gemäss der nachfolgenden Auflistung können auch die Berner die Ersten sein.

Manchmal auch die schnellsten

Ihrer nachgesagten Bedächtigkeit zum Trotz haben Berner und Bernerinnen ein paar nicht  unwesentliche Pioniertaten vollbracht. Das Bernische Historische Museum hat diese im Buch «Berner Pioniergeist» zusammengetragen:

1904

Albert Wander erfindet die Ovomaltine – eines der ersten funktionalen Lebensmittel.

1907

Mit Robert Walsers Roman «Geschwister Tanner» taucht ein neuer Ton in der deutschen Literatur auf.

1908

Die Toblerone ist noch heute die prominenteste Schweizer Schokolade. Wir verdanken sie dem Berner Theodor Tobler.

1913

Der Pilot Oskar Bider überquert als Erster im Flugzeug die Schweizer Alpen.

1920

Der 16-jährige Ernest Berner gründet mit Alice Jazz Band die erste Schweizer Jazzband.

1924

Die erst 24-jährige Vivienne von Wattenwyl liefert als Grosswildjägerin in Afrika die Tiere für das Naturhistorische Museum Bern.

1929

Gustav Hasler entwickelt das Tischtelefon Modell 29, das in Hunderttausenden von Schweizer Haushalten stand.

1932

Dank dem Verfahren des Chemikers Tadeus Reichstein kann das Vitamin C künstlich und in grossen Mengen hergestellt werden.

1934

Auf der Bremgarten-Strecke in Bern findet der erste «Grand Prix Suisse Automobile» statt.

1936

Max Morgenthaler schafft mit der Erfindung des Pulverkaffees Nescafé die wohl berühmteste Lebensmittelkonserve.

1946

Auf dem Gauligletscher im Berner Oberland gelingt die erste Flugrettung.

1954

Mit sechs Gotthelf-Filmen begründet der Regisseur Franz Schnyder das Kino der Nation.

1957

Der Bieler Psychiater Roland Kuhn entwickelt das erste Antidepressivum.

1962

Ursula Andress aus Ostermundigen geht als erstes Bond-Girl in die Filmgeschichte ein.

1969

Die Universität Bern entwickelt ein Sonnenwindsegel für die erste Mondlandung.

1970

Die «Frutiger»-Schrift – ein Klassiker – verdanken wir dem Interlakner Adrian Frutiger.

1972

Fritz Chervet aus Bern-Ausserholligen wird Europameister im Fliegengewicht. Die Boxlegende verhilft dem Boxsport wieder zu Ansehen.

1976

Polo Hofer gehört mit seiner Band «Rumpelstilz » zu den Begründern des Berner Mundartrocks.

1979

Mit Martin Franks «Ter Fögi ische Souhung » ist der erste Schwulenroman in Berner Mundart geschrieben. Der Roman erlangte  Kultstatus und erntete gleichzeitig Bestürzung.

1989

Der Politiker Jean Ziegler hält den Rekord im Einreichen von parlamentarischen Vorstössen. Alleine im Jahr 1989 waren es 38.

1992

Claire-Lise und Thomas Vatter eröffnen den ersten biologischen Supermarkt.

2001

Urs Baumann und Roland von Ballmoos entwickeln ein neues Sitzkissen für Flugzeuge, das auch den Kerosinverbrauch senkt.

2003

23-mal der Schnellste. Michael von Grünigen tritt als bester Riesenslalomfahrer der letzten 10 Jahre zurück.