Wenn man(n) sein Leben wandernd verdient
Der Berner Wanderbuchautor träumt noch von der Realisierung einer Bergmonografie des Wildstrubels. Ihm gefällt der «Walfisch» zwischen den zwei Kantonen. Bild: Peter Allenbach

Wenn man(n) sein Leben wandernd verdient

16. Mai 2017 – DANIEL ANKER IM GESPRÄCH MIT FRANZISKA RICHARD

«Wandern bedeutet für mich Horizonterweiterung», sagt der Berner Wanderbuchautor Daniel Anker. Der Germanist und Historiker äussert sich im nachfolgenden Interview zum Revival des Wanderns und seiner täglichen Arbeit.

Das Wandern erlebt seit einigen Jahren einen Boom. Einer, der sich seit 30 Jahren ungeachtet seines «In und Out» mit diesem Thema leidenschaftlich und akribisch befasst, ist Daniel Anker. Der 62-jährige Alpinist, der weit entfernt mit dem Maler Albert Anker verwandt ist, hat so viele Bücher geschrieben, dass er sie zu zählen kaum imstande ist, und kennt sich wie kaum ein anderer in der Geschichte des Alpinismus aus. Wir sprachen mit ihm.

Herr Anker, Sie gehen tagelang einem Fluss entlang oder klettern auf einen Berg, um danach Ihre Eindrücke auf Papier zu bringen. Das hat wenig zu tun mit dem gängigen Journalismus, wo es um Geld, Macht und allzu Menschliches geht.
Natürlich könnte es langweilig werden, zwei Tage lang dem Meer entlangzuwandern, von Nizza bis Cannes, wie ich es im Februar machte, manchmal halt auch neben der Hauptstrasse, weil es nicht anders ging.

Hängen Sie dann irgendeinmal ab?
Nein, ich bleibe wach, ich suche nach Neuem und Spannendem, und plötzlich kommt es auch.

Aus dem Erlebten verfassen Sie dann den Text?
Fakten sind für mich ebenfalls sehr wichtig, ich recherchiere also auch. Gerne verwende ich gleichzeitig Zitate aus früheren Zeiten. Es schafft einen interessanten Bruch, auch Verfremdung. Das Genfersee-Wanderbuch lebt fast ausschliesslich von Zitaten. Gleichzeitig bin ich natürlich in einer Vermittlerrolle des Schönen. Es ist nicht mein Job, Leute über Geröllhalden zu führen und ihnen Abenteuergeschichten zu erzählen.

Wie ist die Tonlage bei diesen Zitaten?
Teilweise schon sehr pathetisch. Herausragend sind sicher die Engländer, ihre Bergberichte haben Unterhaltungswert. Sie waren selbstironisch, aber zu den Einheimischen auch etwas beleidigend. Sie hielten diese nicht für die Kultiviertesten und Klügsten. Besonders interessant sind persönliche Tourenbücher.

Es überrasche ihn immer wieder, wie weit und wie hoch man zu Fuss doch komme, sagt Daniel Anker. Bild: zvg
Es überrasche ihn immer wieder, wie weit und wie hoch man zu Fuss doch komme, sagt Daniel Anker. Bild: zvg

Sie stehen auch unter einem gewissen Erneuerungsdruck. Gibt es überhaupt immer wieder neue Wanderungen?
Enorm viele. Zwar verschwinden viele Alpwege, und es entstehen Asphaltstrassen. Doch ab einer gewissen Höhe haben wir dieses Problem nicht. So habe ich im Wanderführer Berner Oberland fünfzig Wanderungen vorgestellt, die in den bestehenden Wanderführern Berner Oberland Ost und West grösstenteils nicht berücksichtigt wurden.

«Das Unbekannte hat durchaus auch seinen Reiz.»

Ist das Bekannte immer auch das Schönste?
Nein, nicht unbedingt. Aber es gibt Klassiker, so genannte Renommiertouren, die will man gemacht haben. Natürlich ist das Hohtürli top, natürlich gehören in Adelboden die Bunderchrinde und die Lohnerhütte zum besonders Spektakulären. Doch auch der unbekannte Spissenweg hat seinen Reiz.

Wandern Sie noch immer gerne?
Ja, sehr gerne. Wandern bedeutet für mich Horizonterweiterung, im konkreten wie auch im abstrakten Sinne. Und es überrascht mich immer wieder, wie weit man zu Fuss doch kommt.

Welche Bedeutung hatte das Wandern in Ihrer Kindheit?
Ich komme aus einer Bergsteigerfamilie, wir sind immer in den Bergen gewesen. Es gab dieses grausam langweilige Sonntagswandern nicht. Wir sind auch geklettert und haben spannende Dinge unternommen.

Wie erklären Sie sich die neue Popularität des Wanderns?
Es gibt neue Formen mit neuen Zielgruppen, was sich auch auf dem Buchmarkt niederschlägt. Da ist die Motivation des Schlank- und Gesundbleibens, dann gibt es das esoterische Wandern, also das Aufsuchen von Kraftorten. Und das Wandern auf den Spuren von XY, ich nenne es das Kultur- und Literaturwandern. Und natürlich sind da die Alpinisten, die anspruchsvolle Touren machen und Gipfel besteigen wollen.

Wandern kennt viele Formen und Zielgruppen: Die einen betreiben es ganz sportlich, wieder andere gegeben sich auf die Suche nach Kraftorten oder folgen den Spuren von Literaten.
Wandern kennt viele Formen und Zielgruppen: Die einen betreiben es ganz sportlich, wieder andere gegeben sich auf die Suche nach Kraftorten oder folgen den Spuren von Literaten.

Mit den Alpinisten haben Sie sich intensiv auseinandergesetzt, auch in Ihren Bergmonografien. Wann wird ein Berg zum Mythos, wann nicht?
Die Form eines Berges spielt eine ganz entscheidende Rolle, aber auch die Lage. Je exponierter, desto besser. Und dann sind es die Geschichten, die sich um ihn ranken, natürlich auch die Besteigungsgeschichte. Eiger, Jungfrau und Matterhorn sind solche Berge.

Der Wildstrubel fehlt in Ihren zwölf Bergmonografien.
Er würde mich persönlich sehr reizen. Der Wildstrubel ist ein grosser Berg, liegt da wie ein Walfisch zwischen zwei Kantonen, er hat eine spannende Besteigungsgeschichte und bietet mit der Plaine Morte, den Bahnprojekten und den Fotodynastien Klopfenstein/Gyger interessanten Stoff.

«Etwas Schwieriges zu bewältigen, macht glücklich, gerade heute, wo man kaum mehr Gefahren spürt.»

Wer waren die Erstbesteiger der Alpengipfel?
In der Anfangsphase waren es Wissenschaftler, Vermesser, oftmals auch Jäger. Das Motiv war lange eine Mischung aus Naturkunde und Erkunden einer Route. Als erster moderner Bergsteiger, der aus sportlichen Motiven aufbrach, gilt Placidus Spescha, Mönch des Klosters Disentis. Der grosse Boom der sportlich motivierten Erstbesteigungen begann 1855 mit der Erstbesteigung der Dufourspitze am Monte Rosa. Diese Leute gehörten einer gesellschaftlichen Elite an. Es ging ihnen um Prestige, aber auch um Erkenntnisgewinn. Je spektakulärer und dramatischer eine Erstbesteigung oder Erstdurchsteigung war, das ist vielleicht zynisch, desto bekannter wurde sie. Jene des Matterhorns und der Eigernordwand strahlten weit – eben auch, weil es dabei zu Unglücken kam.

Waren die damaligen Erstbesteiger auch so kühn wie die heutigen Extrembergsportler?
Natürlich. Sie waren sehr zäh, sehr ausdauernd und auch technisch recht geschickt. Das Solobergsteigen wurde schon im 19. Jahrhundert praktiziert. Es gab schon damals Leute, die allein über gefährliche Gletscher gingen. Der wahre Bergsteiger geht immer an seine Grenzen.

Um das Leben herauszufordern.
Um es zu spüren. Es gibt ihm ein Gefühl von enormer Präsenz und Intensität. Etwas Schwieriges zu bewältigen, das macht glücklich, gerade heute, wo man kaum mehr Gefahren spürt.

Daniel Ankers Lieblingsberg. Was die Besteigungsgeschichte anbelangt, nennt er den Eiger. Doch der schönste Berg ist für ihn das Finsteraarhorn. Bild: zvg
Daniel Ankers Lieblingsberg. Was die Besteigungsgeschichte anbelangt, nennt er den Eiger. Doch der schönste Berg ist für ihn das Finsteraarhorn. Bild: zvg

«Ich komme aus einer Bergsteigerfamilie, bei uns gab es dieses grausam langweilige Sonntagswandern nicht.»

Die Historikerin Tanja Wirz zeigt in ihrem Buch «Gipfelstürmerinnen» auf, dass Frauen schon in der ersten Hälfte des 19. Jh. Alpinismus betrieben, dass der Schweizer Alpen-Club sie jedoch Anfang des 20. Jh. ausschloss. Können Sie das nachvollziehen?
Man sah sie als Konkurrenz. Der SAC war lange Zeit ein reiner Männerclub einer rechtsbürgerlichen Elite. Mit der beginnenden Emanzipation kam eine gewisse Angst auf, zumal noch andere Gesellschaftsschichten, nämlich die Arbeiter, mit dem Bergsport begannen.

Die Linken wollte man also auch nicht?
Zwar hiess es: In den Bergen spielen die Standesunterschiede keine Rolle, da sind wir alle gleich. Und man war auch der Meinung: Bringt den Linken die Berge näher, damit sie zur «rechten» Gesinnung kommen und ans Vaterland glauben und nicht mehr an Lenin. Doch einzelnen Sektionen konnten sie bis um 1950 nicht beitreten.

Hat sich das Verhältnis heute entspannt?
Der SAC versteht sich heute als unpolitischer, breit gefächerter Freizeit- und Sportclub. Zu umweltpoltischen Fragen, die die Berge direkt oder indirekt betreffen, nimmt er zwar Stellung, nicht aber zu anderen politischen Fragen. Heute kann jeder beitreten. Doch die Arbeiter haben damals ihre eigenen Vereine wie die Naturfreunde gegründet, die noch heute existieren.

Nimmt man die Frauen jetzt mit Handkuss?
Sicher, sie sind sehr willkommen. Der SAC strebt ja auch einen Mitgliederzuwachs an. Gerade im Klettern fühlen sich Frauen aufgrund ihrer annähernd gleichen Leistungen ernst genommen.

Gibt es in Ihrem Leben einen Lieblingsberg?
Mich fasziniert der Eiger wegen seiner Besteigungsgeschichte. Als Belper habe ich ein besonderes Verhältnis zur Bürglen; dort oben feierte ich auch meinen 60. Geburtstag. Der schönste Berg ist für mich ganz klar das Finsteraarhorn. Von Bern aus ist es einfach sehr elegant und leuchtet verlockend hell in der Abendsonne. Zudem sieht man das Finsteraarhorn von fast überall. Wenn ich weit weg bin, im Bündnerland oder im Tessin, und ich sehe das Finsteraarhorn am fernen Horizont, dann ist das wie ein Gruss von zu Hause.

Zur Person

Daniel Anker (*1954) ist Historiker, freier Journalist, Autor von Skitouren-, Wander-, Klettersteig- und Radführern sowie von alpinismusgeschichtlichen Werken. Im Weiteren arbeitet er für die «NZZ», «Die Alpen SAC» sowie als Rezensent beim Schweizerischen Bibliotheksdienst. Seine Best- und Longseller sind die beiden im Rother Verlag erschienenen Wanderführer «Berner Oberland Ost» und «Berner Oberland West». Daniel Anker schweift auch gerne in die Ferne. Er hat Wanderbücher über das Languedoc-Roussillon, die Côte d’Azur und Kalifornien geschrieben und 12 Bergmonografien (AS Verlag). Auf www.bergliteratur.ch stellt er wöchentlich neue Bücher aus der Welt der Berge vor. Daniel Anker lebt mit seiner Familie in Bern.