Schweizer Wein: Handwerk und Leidenschaft
Kaum eine andere Weinregion kann weltweit mit einem solchen Sortenreichtum aufwarten wie das Wallis. Bild: Oenotourisme / Christian Pfammatter

Schweizer Wein: Handwerk und Leidenschaft

4. April 2018 – Mit Geny Hess sprach Franziska Richard

Das Weinland Schweiz gedeiht – wie selten zuvor. Eine Würdigung des Weinkenners Geny Hess, der dabei auch auf die Trouvaillen im Bellevue-Keller zu sprechen kommt.

In seinem Booklet «Die 100 besten Schweizer Winzer» zeichnet GaultMillau die besten Winzer der Schweiz aus. Gleichzeitig bricht der Gourmetguide eine Lanze für jene Restaurants, die dem Schweizer Wein eine besondere Beachtung schenken. Auf der Liste der «10 besten Karten des Schweizer Weins» figuriert auch das Bellevue. Quel honneur! Dies spornt uns an, den Schweizer Wein weiter zu hegen und zu pflegen; gleichzeitig nehmen wir es zum Anlass, uns mit Geny Hess, einem profunden Weinkenner, zu unterhalten.

Herr Hess, stellen Sie sich vor, Sie dürften ein Kistchen Schweizer Weine mit auf die einsame Insel nehmen. Welche sechs Weine wären darin?
Nur sechs Weine! Die würde ich mir lieber vor meiner Abreise einschenken lassen. Für die einsame Insel wäre die Selbstversorgerstrategie wohl klüger: Neben Gemüsesetzlingen, einem Huhn und einem Hahn, einer Geiss und einem Bock wären auch Pinot-noir- und Petite-Arvine-Rebstöcke in meinem Gepäck. Eine abgelegene Alp wäre mir jedoch lieber.

«Die Walliser haben es verstanden, die Sortenvielfalt zu erhalten und weiterzuentwickeln.»

Vielleicht wären Sie in unserem Nachbarkanton Wallis ganz gut aufgehoben. Hier müssten Sie die Rebstöcke nicht einmal mitnehmen.
Kein schlechter Vorschlag. Das Wallis ist ein faszinierender Gebirgskanton. Er verfügt über ein exzellentes Mikroklima mit mannigfaltigen Terroirs. Im Weinbau hat man es verstanden, die Sortenvielfalt zu erhalten und weiterzuentwickeln. Mir ist weltweit keine Weinregion mit einer solchen Vielfalt an Traubensorten bekannt – allen voran die autochthonen Sorten wie Cornalin, Humagne rouge, Amigne, Petite Arvine, Humagne blanche u.a. Dies ist umso beachtlicher, als gewisse autochthone Sorten eine sehr aufwendige Pflege erfordern und ertragsarm sind. Spannend ist übrigens auch, dass der Pinot noir im Wallis immer besser wird. Während er im Burgund und anderswo zunehmend unter der Klimaerwärmung leidet, können die Walliser mit ihren Pinots in die Höhe gehen oder an das linke Rhoneufer und ihm die Frische geben, die er braucht.

Zur Person

Der Ex-Hotelier Geny Hess hat sich als profunder Kenner des Schweizer Weins einen Namen gemacht. Er schreibt Weinkolumnen für diverse Titel und ist Präsident der GaultMillau-Weinjury. Der Seniorpatron des Familienunternehmens
Hess Selection in Engelberg bietet auch Weinberatungen für Hotels und Restaurants an.

www.hess-selection.ch

Der Pinot noir werde im Wallis immer besser, sagt Geny Hess, während andere Regionen unter der Klimaerwärmung leiden würden. Bild: Oenotourismus / Christian Pfammatter
Der Pinot noir werde im Wallis immer besser, sagt Geny Hess, während andere Regionen unter der Klimaerwärmung leiden würden. Bild: Oenotourismus / Christian Pfammatter

Eine Schweizer Paradesorte ist der Chasselas, im Wallis Fendant genannt. Ist er noch immer nur der «gmögige » Fondue-Wein?
Von Ausnahmen abgesehen hat er lange Zeit von seinem Namen resp. seiner Bekanntheit gelebt. Zu einer merklichen Qualitätssteigerung ist es mit dem Ausbau von Lagen-Fendants gekommen, u.a. von Marie-Thérèse Chappaz, Simon Maye & Fils und Maurice Zufferey.

Sind andere Winzer ihnen gefolgt?
Ja. Das Faszinierende am Chasselas ist ja, dass das Terroir, also Boden und Klima, diesen Wein stark prägt. Auf Unterwalliser Gneis fällt er strahlig und mineralisch aus; auf den kalkhaltigen Böden rund um Sitten deutlich opulenter. Diese Terroirtypizität ist auch in der Waadt, sozusagen der Wiege des Chasselas mit einem Rebflächenanteil von 69%, sehr ausgeprägt. Chasselas-Weine – gerade auch alte – können wirklich grosse Weine sein.

Bleibt die Waadt ihrer Tradition als klassische Chasselas-Region treu?
Die Waadtländer Spitzenwinzer feiern diese Traube regelrecht, indem sie elegante, berauschende Féchy, Epesses, Dézaley, St. Saphorin, Yvorne und Aigle produzieren. Man nenne hier etwa Raymond Paccot, Pierre-Luc Leyvraz, Blaise Duboux und den Altmeister Louis-Pilippe Bovard. Ihrer Experimentierfreude ist es zu verdanken, dass unzählige andere Winzer ihnen nacheifern und die bisher in den Waadtländer Weinbergen unbekannten Sorten wie Chenin blanc, Sauvignon blanc, Mondeuse, Altesse, Gewürztraminer, Syrah, Merlot, Gamaret etc. anpflanzen.

Wie kommt das?
Die Experimentierfreude geht auch auf minutiöse Bodenanalysen zurück, die schon vor Jahren von einigen Winzern – allen voran Charles Rolaz – in Auftrag gegeben wurden. Dabei zeigte sich Erstaunliches: dass auf engstem Raum sehr unterschiedliche Bodentypen vorkommen, die teilweise auf ganz andere Sorten als die klassischen wie Chasselas und Pinot noir ansprechen.

«Jedes Schweizer Weingebiet ist auf der Bellevue-Weinkarte mit Trouvaillen zu äussersst fairen Preisen vertreten.»

Das Tessin produziert neben reinsortigen puristischen Merlots hervorragende Bordeaux-Blends. Im Bild: Rebberg vom Gut Kopp von der Crone Visini.
Das Tessin produziert neben reinsortigen puristischen Merlots hervorragende Bordeaux-Blends. Im Bild: Rebberg vom Gut Kopp von der Crone Visini.

Das Wallis und die Waadt sind auf unserer Karte stark vertreten. Was lässt sie sonst noch erkennen?
Ganz generell: Sie ist einen Umweg wert! Nicht nur des überwältigenden Burgund-Angebotes wegen. Man spürt viel Herzblut und Sorgfalt, auch beim Schweizer Wein. Jedes Gebiet ist mit Trouvaillen zu äusserst fairen Preisen bestückt. Schön auch, dass der Heimatkanton Bern mit interessanten Bielersee- und Thunersee-Weinen von Andreas Krebs, Sabine Steiner und dem Rebberg Spiez vertreten ist. Achtung: In den Weinbergen rund um den Murten- Bieler- und Neuenburgersee sprudelt es nur so vor Innovation und Dynamik. Dieses Gebiet noch etwas auszubauen, würde sich lohnen.

Lassen Sie uns etwas von den Machern reden. Wie liessen sich diese beschreiben?
Die mir persönlich nahestehenden Winzer sind der Scholle verbunden, zugleich sind es sehr präzise, aufgeschlossene Handwerker – letztlich geradlinige und unbestechliche Persönlichkeiten, deren Handschrift sich Jahr für Jahr in ihren Weinen spiegelt. In diesem Sinne hat GaultMillau neun Winzer als Ikonen ausgezeichnet.

Das sind?
Maye, Chappaz, Pellegrin, Bovard, Tatasciore, Gantenbein, Donatsch, Zündel und Gialdi – alles Idole und Pioniere, die teilweise schon in den 1970er-Jahren den qualitativen Quantensprung eingeleitet haben. Zündel und Chappaz sind auch Biodynamiker der ersten Stunde, zusammen mit Cruchon und Paccot. Von ihrer Sicht- und Arbeitsweise lassen sich immer mehr Winzer überzeugen und setzen ebenfalls auf Biodynamik, ohne es allerdings an die grosse Glocke zu hängen.

«Die mir persönlich nahestehenden Winzer sind der Scholle verbunden, zugleich sind es sehr präzise, aufgeschlossene Handwerker.»

Ist auch ein Generationenwechsel im Gang?
Ja, teilweise ist er auch schon abgeschlossen. Schön ist zu sehen, dass es heute ein partnerschaftliches Miteinander ist. Die jungen Winzerinnen und Winzer bauen auf die Erfahrungen ihrer Eltern; diese wiederum sind sehr offen, auch gegenüber dem neuen Wissen, welches der Nachwuchs an Weinfachschulen und mit Praktika im In– und Ausland erworben hat. Das sind womöglich schon die Früchte einer nicht mehr autoritären Erziehung.

Gehen wir auf unserer fiktiven Weinreise noch in die Deutschschweiz. Was erwartet uns hier?
Beim Weisswein gibt eine grosse Vielfalt an den Chardonnay von Gantenbein oder den Completer von Thomas Studach; bei den Rotweinen sorgen die charaktervollen und berührenden Blauburgunder für Aufsehen. Mit letzteren ist Ihre Weinkarte ja gespickt voll. Den Wandel vom herkömmlichen Beerliwein zum grossen Pinot noir haben Vorzeigewinzer in der Bündner Herrschaft eingeläutet. Die übrige Schweiz hat mit beeindruckenden Blauburgundern nachgezogen und dabei eine ureigene Authentizität entwickelt. Ich denke da zum Beispiel an Tom Litwan aus dem aargauischen Schinznach, Michael Broger aus dem thurgauischen Ottoberg und an den Schaffhauser Markus Ruch.

Das Weinland Schweiz ist dem reinsortigen Wein verpflichtet. Gibt es auch überzeugende Assemblagen?
Die absolute Champions League konzentriert sich auf den reinsortigen Wein. Das ist ganz nach  meinem Geschmack; es erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit Sorte und Terroir. Aber Achtung: Es gibt auch grossartige Blends. Wenn Vorzeigewinzer solche produzieren, setzen sie die Messlatte enorm hoch. Es werden nur die allerbesten Säfte einer Sorte verwendet. Meine  persönlichen Favoriten sind im Tessin. Einige von ihnen – u. a. Christian Zündel, Kopp von der Crone Visini und Sergio Monti – produzieren Bordeaux-Blends von Weltformat.

AUF UNSERER WEINKARTE

Walliser Spezialitäten | Ungefähr 10% der Walliser Weinproduktion machen die Spezialitäten aus – umso gefragter sind sie. Sehr begehrt: der trockene und süss ausgebaute Petite Arvine. Oft duftet er nach Zitrusfrüchten und hat nicht selten eine leicht salzige Note. Oder der lebhafte, ziemlich trockene Heida, dessen aromatisches Spektrum von fruchtig-exotisch bis mineralisch reicht. Ein Sinneserlebnis bietet auch der tiefrote Cornalin: etwas rustikal und wild, vollmundig, mit Noten von Sauerkirschen und Gewürznelken.

  • Ermitage: Gérald Besse, Marie-Thérèse Chappaz
  • Heida – Païen: Josef-Marie Chanton, Domaine Cornulus, Simon Maye & Fils, Robert Taramarcaz
  • Humagne blanche: Jean-Daniel Favre, Robert Taramarcaz
  • Petite Arvine: Charles Bonvin, Marie-Thérèse Chappaz, Philippe Darioly, Jean-Daniel Favre, Histoire d’Enfer, S. Maye & Fils, Olivier Pittet
  • Cornalin: Robert Taramarcaz, Nicolas Zufferey
  • Humagne rouge: Jean-Daniel Favre, Simon Maye & Fils, Robert Taramarcaz, Nicolas Zufferey

Leidenschaft Chasselas

Wer Schweiz in seinem Glas haben will, trinkt Chasselas, eine in Europa sonst kaum angepflanzte Sorte. Und wer die Traube keltert, liebt sie und lässt sie – je nach Terroir – sprechen:

Lavaux – elegant und tiefgründig:

  • St. Saphorin, Bernard Bovy
  • Villette Vase No. 10, Henri et Vincent Chollet
  • Dézaley, Baronnie Médinette, Louis Bovard

La Côte – «weinig»:

  • Féchy La Colombe, Raymond Paccot

Chablais – mineralisch:

  • Grand cru de Villeneuve, Christophe Schenk

Süsswein aus Fully

Es muss nicht immer Sauternes sein. Die Süssweine von Marie-Thérèse Chappaz, die immerhin den Übernamen der Süsswein-Königin trägt, sind eine lohnende Alternative. Bei uns: Petite Arvine 2009 und Marsanne Blanche 2011.

Die weissen Alternativen

Von Genf bis Malans überraschen die Winzer mit einer breiten Palette hervorragender Weissweine.

  • Chardonnay: Christian Zündel, Daniel Huber, Daniel & Martha Gantenbein, Thomas Donatsch, Irene Grünenfelder, Georg Fromm, Tom Litwan, Erich Meier
  • Kerner: Cantina Kopp von der Crone Visini
  • Pinot gris: Sabine Steiner, La Maison Carrée,
  • Domaine La Colombe, Georg Fromm
  • Riesling x Sylvaner: Rebbaugenossenschaft Spiez, Georg Fromm
  • Savagnin: Nicolas Zuffere
  • Sauvignon blanc: Jean-Pierre Pellegrin Domaine Les Hutins; Thomas Donatsch, Irene Grünenfelder, Georg Fromm, Daniel Marugg
  • Traminer: Cru de l’Hôpital Vully

Die Biodynamiker

Was vor zwei Jahrzehnten noch als esoterischer Habakuk belächelt wurde, gewinnt in der Schweizer Winzerszene zunehmend an Respekt und Beachtung: die nach den Lehren Rudolf Steiners ausgerichtete biodynamische Weinbewirtschaftung. Die Verwendung von natürlichen und homöopathischen Präparaten wie Kuhdungkompost, Hornmist, Hornkiesel und dynamisierten Pflanzentees sind ebenso Bestandteile dieser Arbeitsweise wie auch die Beachtung der Mondphasen und der Verzicht auf Herbizide und Pestizide. Das Resultat: lebendige Weine mit Charakter. Auch auf unserer Weinkarte wächst die Zahl der Biodynamiker stetig. Es sind unter anderen:

  • Marie-Thérèse Chappaz
  • Emilienne Hutin Zumbach
  • Tom Litwan
  • Christian & Francisca Obrecht
  • Raymond Paccot
  • Jean-Denis & Christine Perrochet
  • Markus Ruch
  • Christian Zündel

Die «Burgundermacher»

Die «Revolution» des Blauburgunders in der Bündner Herrschaft leitete Thomas Donatsch ein, als er 1973 drei gebrauchte Eichenfässer von der renommierten Burgunder Domaine Romanée-Conti nach Malans brachte. Der Erfolg seines nun nach Burgundermethode gekelterten Blauburgunders blieb nicht aus; andere folgten ihm. Die eleganten Pinots der Bündner Herrschaft begeistern heute Kenner über die Landesgrenzen hinaus. Mit burgundischer Kelterung auf unserer Karte:

  • Andrea Davaz
  • Thomas Donatsch
  • Georg Fromm
  • Daniel & Martha Gantenbein
  • Irene Grünenfelder
  • Daniel & Monika Marugg, Weingut Bovel
  • Matthias & Sina Möhr-Niggli
  • Christian & Francisca Obrecht
  • Markus Stäger
  • Thomas Studach
  • Von Tscharner, Schloss Reichenau
  • Peter Wegelin

Tessiner Purismus

Mit den Weinen namhafter Tessiner Winzern ist das Tessin auf der Bellevue-Karte stark vertreten. Die Frage an Sie: Reinsortiger Merlot als Ausdruck des Purismus oder Opulenz mit Bordeaux-Blends?

Reinsortige Merlots:

  • Platinum 2012, Guido Brivio
  • Ronco di Persico 2013, Daniel Huber
  • Balin 2013, Kopp von der Crone Visini
  • Tracce di Sassi 2012, Werner Stucky
  • Terraferma 2011, Christian Zündel

Bordeaux-Blends:

  • Montagna Magica 2014, Daniel Huber
  • Irto 2010, Cantina Kopp von der Crone Visini
  • Malcantone 2012, Sergio Monti
  • Arco Tondo 2012, Tenuta San Giorgio
  • Orizzonte 2012, Christian Zündel