Die schaurige Anderswelt der Alpensagen
27. Oktober 2016 – Mit Stefan Ineichen sprach Franziska Richard
Der Zürcher Schriftsteller Stefan Ineichen hat die bedeutendsten Schweizer Alpensagen bearbeitet ‒ und dabei immer wieder gestaunt: «Viele Sagen haben eine absurde Weisheit, wie man sie eher bei ostasiatischen Zengeschichten erwartet.»
Ja, natürlich. Schaudern ist reizvoll. Dann ist das eine Fantasywelt, wie wir sie heute auch von Harry Potter kennen. Doch im Gegensatz zu Harry Potter und «Herr der Ringe» hat die Alpensage einen lokalen Bezug. Man glaubt, seine Umgebung zu kennen, bis man merkt, dass es noch etwas Anderes gibt – eine Gegenwelt zur technisch-rationalen Welt. So verrückte Dinge in der vertrauten Umgebung zu erleben, ist ziemlich schräg.
Es ist traum- und alptraumhaft und mutet sehr modern an. Gleichzeitig ist es typisch für diese Art Sagen. Es gibt räumliche und zeitliche Grenzen. Wer sie überschreitet, gerät in geisterhafte Welten.
Sagen sind wie orientalische Geschichten. Den Stoff erzählt man immer wieder neu. Die sprachliche Schärfe, die die nötige Nähe schafft, ist oftmals das Verdienst des Erzählers oder des Autors, der sie zu Papier gebracht oder zuletzt bearbeitet hat. Obschon er die Geschichte nicht erfunden hat, kommt ihm eine wichtige Rolle zu.
Spass macht mir eine Sage, wenn sie auf eine erstaunliche Art zeigt, wie die Welt funktioniert, oder auch nur die Hintergrundinformationen zu Personen oder Symbolen liefert, die in unserem Alltag noch eine Bedeutung haben, wie Wilhelm Tell auf dem Fünfliber oder der heilige Fridolin auf der Elmer Mineralwasserflasche. Vergnügen bereiten auch Geschichten, die überraschen und Unerwartetes berichten.
«Sagen sind wie orientalische Geschichten. Den Stoff erzählt man immer wieder neu.»
Zum Beispiel?
Die Feengeschichten aus der Westschweiz, die sind oft eigenwillig. Sie haben denn auch eine erotische Komponente, die es in anderen Sagen nicht unbedingt gibt. Schön ist beispielsweise die Sage von den Feen aus Villars-Les Diablerets. Sie wohnen auf den grünen Wiesen und sind nicht abgeneigt, sich mit den einheimischen Männern einzulassen. Doch als einer beginnt, seine Frau mit dem Käserührer zu traktieren, beschliessen gleich alle auszuwandern und ein Land zu suchen, wo es bessere Männer gibt.
Wenn eine Sage moraltriefend ist. Es ist furchtbar langweilig, wenn immer die Braven und Angepassten belohnt werden.
Es gibt sie natürlich, aber sie überwiegen nicht. Interessant ist auch, dass viele Sagen im Laufe der Jahrhunderte anders erzählt wurden. Gerade im 19. Jahrhundert erhielten nicht wenige einen moralisierenden Beigeschmack, den sie zuvor nicht hatten. Das entsprach dem Zeitgeist.
Man hat in dieser Zeit sehr viele Sagen gesammelt; die grösste Leserschaft gab es jedoch später, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Zeit des Nationalismus wurde es wichtig, seine kulturellen Wurzeln zu stärken. In der Schweiz entstanden viele gute Sagensammlungen, die im ganzen deutschsprachigen Raum beachtet wurden. Dass Sagen im 20. Jahrhundert so populär wurden, hat auch mit Meinrad Lienerts Sagensammlung zu tun, die 1914 erschien. Dieses Buch war sehr erfolgreich, es wurde zum Klassiker. Bis 1950 wurden 30 Auflagen publiziert.
Die antiken Sagen schon, Schweizer Sagen hingegen liest man kaum mehr. Viele Lehrer und Lehrerinnen halten sie für veraltet. Vielleicht auch, weil es die Lehrer vor 30, 40 Jahren übertrieben haben.
Ja. Ich erlebe das auch oft bei Lesungen. Wenn ich Hintergründe erkläre, hören sie kaum hin. Sobald ich aber wieder lese, sind sie voll da.
Haben Sie sich als Jugendlicher für Sagen interessiert?
Schon als Kind. Wenn wir im Bündnerland Burgruinen besuchten, versuchte ich, etwas über sie herauszufinden. Dabei stiess ich auf Sagen. Ich begann diese zu sammeln und neu zu schreiben. Als junger Erwachsener haben mich Sagen weniger beschäftigt, später entdeckte ich sie wieder.
«Es ist furchtbar langweilig, wenn immer die Braven und Angepassten belohnt werden.»
Ein guter, sehr populärer Schriftsteller. Nur wenige Monate nach seinem Tod wurde in Zürich, wo er einen Teil seines Lebens verbrachte, eine Strasse nach ihm benannt. Neben seinen sehr schönen Gedichten schrieb er interessante Erzählungen, die die damaligen Lebensumstände sehr genau wiedergeben. Eigentlich war er ein typischer Schweizer. Immer etwas hin- und hergerissen zwischen Stadt und Land, d.h. zwischen Einsiedeln, wo er aufgewachsen war, und Zürich. In der Stadt fand er Anerkennung und Arbeit; so richtig wohl fühlte er sich auf dem Land. Lienert sprach gut Französisch, er wurde auch in der Westschweiz gelesen.
Ziemlich behutsam. Ich hatte zwar den Auftrag, die Sprache so zu bearbeiten, dass sie zeitgemäss und flüssig zu lesen ist, denn wenn die Sprache antiquiert ist, können wir eine Geschichte gar nicht ernst nehmen. Den Inhalt habe ich nicht verändert. Ich traf hingegen eine Auswahl.
Meinrad Lienert hat der alten, magischen und heroischen Schweiz ein Denkmal gesetzt. Seine Geschichten sind auch Zeugnisse der damaligen Lebensart. Er recherchierte ziemlich genau, hat die Geschichten dann aber recht eigenwillig und blumig umgesetzt. In meiner eigenen Sammlung «Himmel und Erde» wollte ich die Sagen ins Heute holen. Mit einer klaren, knappen Sprache und oft einem abrupten Ende schuf ich Nähe und zugleich Verfremdung. Auch habe ich die eher unerwarteten Geschichten ausgegraben und nicht selten gestaunt, wie skurril sie sind. Gewisse haben gar eine absurde Weisheit, wie man sie eher von ostasiatischen Zengeschichten erwartet als von Alpensagen.
Die Katholiken sind insgesamt sicher stärker. Noch heute ist in der Innerschweiz einiges los. Gleichzeitig ist auch das Berner Oberland sehr empfänglich für das Magische und Mystische. Unabhängig von der Konfession findet man in den abgelegenen Gebieten der Voralpen und Alpen die lebendigsten Sagen.
Eng, wenn auch vieles in den Sagen nicht 100%ig dem Christentum entspricht. Gleichzeitig hat das Christentum starke Zeichen gesetzt. Wenn es irgendwo gegeistert hat, haben auch die Reformierten die Kapuzinermönche geholt. Der Teufel und die bösen Geister waren im Alltag sehr präsent. Das im Ballenberg ausgestellte Adelboden-Haus beispielsweise zeigt an der Dachtraufe herunterhängende Tannenäste. Sie schützen als magisches Zeichen das Haus vor Schaden aller Art – wie anderswo Kreuze und weitere christliche Symbole. Unbefriedigt von einem flachen, technisch-rationalen Weltbild plündern wir heute die Weisheit der Indianer, Asiaten und Afrikaner. Wir könnten auch bei uns suchen und gewissermassen vertikal bohren, statt in die Ferne zu schweifen.
«Das Berner Oberland ist empfänglich für das Magische und Mystische.»
Dem einen gelingts, dem anderen nicht. Der Senn ist nicht immer der Verlierer.
Die gleichen wie überall: Glück, Reichtum, Liebe, Tod, Verlust ganz allgemein. Der Verlust des Viehs ist ein häufiges Thema ‒ eine existenzielle Bedrohung.
Beides. Wichtig ist sicher vor allem die mündliche Tradition. Es gab viele gesellige Anlässe und Orte wie Spinnstuben. Während die Frauen hier arbeiteten, erzählte eine von ihnen Geschichten. Oder alte Leute trafen sich auf einem Bänkli an der Strasse und berichteten von früher. Der Forscher Alois Senti nannte dies Erzählgemeinschaften. Er forschte in der Nachkriegszeit nach Sagen, später in den 1990er- Jahren wieder. Bei seiner zweiten Recherche musste er feststellen, dass erschreckend viele dieser Erzählgemeinschaften verschwunden waren. Erschwerend für die Kontinuität auf den Alpen kommt hinzu, dass jedenfalls im Bündnerland nicht mehr Einheimische auf die Alp gehen, sondern junge Leute aus den Städten. Ist das im Berner Oberland auch so?
Ja, ich war während zweier Sommer auf der Alp – als Guschtihirt. Allein mit einem Hund. Es war für mich die schönste Art, einen Sommer zu erleben, obschon ich nicht gerade ein Flohnerleben hatte. Wenn abends beim Nachtessen Vieh abging, musste ich noch einmal los, manchmal bis in die Nacht hinein. Das elementare Leben hat mich fasziniert, es war eine sehr wohltuende Abwechslung. Beeindruckend ist auch die bewusste Wahrnehmung von Tag und Nacht. Abends im Stockfinstern so alleine in der Hütte sitzen. Da kann man schon das Gefühl kriegen, ganz alleine auf der Welt zu sein.
Die magische Vorstellung hat hier viel grössere Überlebenschancen. Man ist den Naturkräften ganz anders ausgesetzt. Und schliesslich brauchen Geister auch Raum, der ihnen im städtischen Umfeld zunehmend abhanden kommt. Vor Jahren habe ich eine Reportage über Siedlungen im palästinensischen Gebiet gesehen. Eine alte Frau zeigte an einen Hang voller Neubauten und klagte: «Wo sollen denn nun die Geister leben?»
Zur Person | Stefan Ineichen (*1958), studierte Biologie, ist in Zürich als Siedlungsökologe und Schriftsteller tätig und wirkt als Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Als Ökologe befasst er sich intensiv mit Glühwürmchen, die ihn auch aus kulturgeschichtlichen Gründen interessieren. Neben literarischen Werken («Das Licht in der Wüste ») veröffentlichte er das Sachbuch «Die wilden Tiere in der Stadt» und Sagensammlungen wie «Die verzauberten Schweine» und «Himmel und Erde». 2007 erschien im Verlag Nagel & Kimche die von ihm überarbeitete Sagensammlung von Meinrad Lienert. Im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit der Volksmusiktradition entstand 2013 die Produktion des Programms «Switzerland a Dream», das Schweizer Volksmusik aus Amerika mit Geschichten von aus der Schweiz in die Neue Welt emigrierten Musikern und Sängerinnen kombiniert. Verschiedene Publikationen zu historischen Themen: «Zürich 1933–1945», «Endstation Eismeer: Schweiz – Titanic – Amerika» und zuletzt «Cap Arcona. Märchenschiff und Massengrab» (2015).
Die geschlachtete Kuh
Aus «Alpensagen und Sennengeschichten aus der Schweiz», nacherzählt von C. Englert-Faye (Atlantis Verlag, Zürich 1941).
Bei der Alpfahrt von der Alp Rämisgummen bemerkte der Senn, als man schon mehrere Stunden weit gekommen war, dass ihm eine Kuh fehlte. Da man ihr erst wenige Tage zuvor das Kalb genommen hatte, nahm er an, sie sei unterwegs entlaufen, um ihr Junges zu suchen. Und er sandte den Hirten zurück, dass er sie nachbringe. Der fand das Tier erst nach stundenlangem Suchen. Da war es aber schon so spät am Abend, dass er mit der Kuh in die Alp ging, um dort zu übernachten. Er stellte sie in den Stall, verschloss vorsorglich die Tür und legte sich auf die Gastern.
Eben war er am Einschlafen, als es plötzlich mit Getös und Gebraus daherfuhr, so dass er erschrocken von seinem Gliger aufjuckte: Männer und Weiber kamen mit Hui und Hallo in die Hütte herein. Die sangen und lachten und schwatzten durcheinander, misstönend wie das Gelärme von Elstern, und taten ganz, als wären sie hier daheim. Sie hatten altmödige Gewänder an, am Leibe aber waren sie nicht wie rechte Leute anzusehen. Einige schienen lahm und tschienig, andere halbblind zu sein, wieder andere krumm und von vorn und hinten bucklig, noch andere räudig und voller Schorf. Ihre Haut war dunkelgelb und runzlig wie verschrumpftes Leder, und allen fehlte an der rechten Hand der Zeige- und Mittelfinger. Dem Hirten grauste, dass ihm der Schauder das Haar sträubte. Die unheimlichen Gäste machten Feuer an und begannen zu käsen und Nahscheid zu bereiten. Die fertigen Laiber legten sie auf ein Brett am Boden. Plötzlich rief einer: «Holt jetzt die Kuh her!», und mit lautem Toben brachten einige die Kuh herein. Und unter allerhand Sprüchen und Geberden schlachteten sie das Tier, schlitzten es auf und zerlegten es. Dann ging es an ein Sieden und Braten, indes andere alle Anstalten zum Mahle trafen. Der Hirte auf der Lischen droben wagte kaum zu atmen bei dem Tumult und zog die Decke über den Kopf, um nichts mehr zu hören und zu sehen, bachnass vor Schweiss, so angst war ihm. Aber als das Volk unten johlend und polternd am besten Essen war, rief plötzlich einer mit geller Stimme: «Gänd dem dobe-n-au e Bitz!». Der Hirte schloff noch tiefer ins Heu. Da stieg einer tipp tapp die Leiter hinan und bot ihm auf einem Stück harten Zwiebacks einen Streifen duftenden Fleisches. Der Hirte, dem vor Entsetzen der Laut in der Kehle b’steckte, wehrte mit beiden Händen ab. «Iss oder stirb!» schrie der Mann und hielt ihm das Fleisch an den Mund. Da nahm der Hirte ein nussgrosses Stücklein zwischen die Zähne. Es war so wohlschmeckend, wie er sein Leben lang nie nichts gegessen.
Unterweilen war das Mahl beendet. Nun wurde die Haut der geschlachteten Kuh ausgebreitet, einer sammelte sorgfältig alle Knochen und Knöchlein und war sie hinein, faltete dann die Haut zu einem Bündel zusammen, murmelte einen Spruch unter allerhand Geberden und rief zum Schluss: «Rosina stand uf!». Da machte der Hirt, der starr wie ein Stein allem zusah, das Zeichen des Kreuzes und sagte laut: «B’hüet’s Gott!» Da wurde es mit einem Schlage stockfinster und totenstill.
Aber der Hirt hat die Nacht kein Auge mehr zugetan. Er lag wach, bis der Tag über den Grat kam, und dachte bang, was wohl der Meister sagen werde, wenn er morgen ohne Kuh zurückkomme. Als es heiter geworden war, sah er sich in der Hütte um: Der Käs war ein Stein, die Nahscheidlaibe getrocknete Kuhfladen, der Zweiback eine Schindel. Wie er aber vor die Hütte auf den Staffel hinaustrat, hörte er ein fröhliches Muhen aus dem Stall. Die Tür war fest verschlossen. Da stand die Kuh unversehrt und ganz. Er nahm sie am Halfter und führte sie talab. Da aber sah er, dass sie mit einem Hinterbein hinkte. Er schaute nach und fand, dass am Schenkel ein kleines Stücklein Fleisch fehlte, just so gross als das gewesen war, das er nächten gegessen hatte.