Projektionsfläche der Sehnsüchte
12. Juli 2016 – von Franziska Richard
In den 1930er-Jahren revolutionierte eine Avantgarde der Grafik- und Kunstszene das touristische Werbeplakat. Eine faszinierende Zeitreise.
Wer hat ihn nicht gesehen, den eindrücklichen Dokumentarfilm über den Engelberger Herbert Matter, der in Amerika zu einem der bedeutendsten Fotografen, Grafiker und Designer wurde? Und wer hat nicht gestaunt über die Modernität und Durchschlagskraft seiner einzigartigen Tourismusplakate?
Ich tat es, was auch der Grund ist, weshalb ich hier über das Tourismusplakat der Zwischenkriegsjahre schreibe. Dazu unternahm ich eine Reise nach Zürich in die rund 300'000 Werbeplakate umfassende Sammlung des Museums für Gestaltung. Danach begab ich mich in die andere Richtung der Schweiz, nach Lausanne. Hier, im schönen Quartier du Nord hoch über dem See, sitzt einer, der sie alle kennt: Matter, Stoecklin, Peikert, Trapp, Carigiet, Leupin und wie sie alle heissen – die damaligen Avantgardisten der Plakatwerbung, die mit Modernität, Ausdruckskraft, Sinnlichkeit und Witz der Schweiz zum Renommee als Tourismusland par excellence verhalfen. Werner Jeker verdient sein Brot heute als selbständiger Grafiker, einige Jahre zuvor war er, neben seiner selbständigen Tätigkeit, Studienleiter an der Hochschule der Künste in Bern, Abteilung Gestaltung und Kunst.
Neue Werbesprache
«Tourismus und Grafik beflügelten sich gegenseitig», meint Jeker und präzisiert, dass die Tourismusbranche für die Grafik und Kunstszene der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre ein wichtiger und vor allem ein anspruchsvoller Auftraggeber war. Nicht etwa, weil das Geschäft boomte. Der Tourismus stagnierte. Für die geradezu monströse um die Jahrhundertwende errichtete Infrastruktur musste nach den Umwälzungen des Ersten Weltkrieges eine neue Kundschaft und somit auch eine neue Werbesprache gefunden werden. Denn auch unter den einzelnen Kurorten begann sich ein Konkurrenzkampf bemerkbar zu machen. Der Markenartikel entstand, auch im Tourismus.
«Tourismus und Grafik beflügelten sich gegenseitig.»
Werner Jeker
Zeitgleich formierte sich in der Kunst- und Grafikszene eine vom Expressionismus und Konstruktivismus beeinflusste Avantgarde. Gerade in der Deutschschweiz taten sich viele Grafiker als Künstler hervor. Was sie verband, war ihr Glaube an eine Integration der bildenden Kunst in den Alltag. Der sogenannte «Swiss Style», der auch mit Schweizer Präzisionsgrafik umschrieben wird und sich in erster Linie als konstruktive Grafik definiert, wurde auch im Ausland zum Begriff. Die konstruktive Grafik wird der Zürcher Schule zugeordnet, ihr gegenüber steht die Basler Schule als illustrative Grafik. Das Plakat war weitgehend die Domäne der Illustrativen, die ihre Aufträge in einer persönlichen Handschrift, vorwiegend mit Pinsel und Zeichnungsstift, realisierten.
Dynamisch, expressiv
Die Plakatkünstler sorgten in der touristischen Werbung für einen ekstatischen, dynamischen und expressiven Stil und verdrängten das schwarz-weisse Landschaftsbild des erst gerade in Mode gekommenen Fotografieplakates. Neu stand die Eroberung der Natur durch sportliche Aktivitäten im Mittelpunkt. Relativ spät, das heisst um 1930, verschwanden die schwarz-weissen Landschaftsfotografien von den Plakatwänden der Schweizerischen Verkehrszentrale SVZ (heute Schweiz Tourismus) – in gewissen Kurorten geschah das deutlich früher. Doch umso konsequenter und rigoroser wandte sich die SVZ dann an die progressivsten Grafiker des Landes. Einer unter ihnen war Herbert Matter.
Der sogenannte «Swiss Style» wurde auch im Ausland zum Begriff.
Werner Jeker hält Matter für den profiliertesten Grafiker der Zeit: «Seine Plakate haben bis heute nicht an Aktualität verloren, sie haben Tiefensog, sind äusserst dynamisch und komplex.» Der Engelberger, der der Zürcher Schule entstammte, bediente sich einer völlig neuen Ästhetik, indem er fotografische, grafische und typografische Elemente verknüpfte. Diese Technik wandten in der Folge auch andere Grafiker an. Die 1934 und 1935 für die SVZ und verschiedene Kurorte kreierten Plakate – sie wurden in den meisten europäischen Grossstädten und auch in Übersee ausgehängt – machten ihn als Gestalter international bekannt.
Gute Werber
«Die Arbeiten der Erneuerer waren nicht nur technisch und künstlerisch hochstehend», verdeutlicht Werner Jeker, «die damaligen Gestalter verstanden es auch, Aktualität herzustellen und ein Thema in einer Ganzheitlichkeit anzugehen. » Dies zeigt sich auch bei Niklaus Stoecklin (1896–1982), der ein früher Vertreter der Basler Schule war. In einem für die PTT Generaldirektion 1925 angefertigten Plakat thematisierte er die noch junge Erschliessung der Alpen über eine hell erleuchtete Strasse. Sie führt ins Herz der Alpen, das Gebirge im Hintergrund bleibt von der Erschliessung verschont. Die Welt im Dunkeln – nur Adelboden im Licht, so visualisierte Martin Peikert (1901–1975) die Werbebotschaft des sonnigen Adelboden. Peikert gehörte ebenfalls zu den bedeutendsten und produktivsten Plakatgestaltern im Tourismus, er arbeitete häufig im Auftrag von Westschweizer Kurorten.
Stets viel Ironie und Witz schwingt in den Plakaten von Herbert Leupin (1916–1999) mit, der ein Vertreter der Basler Schule ist und mit seinem imposanten Gesamtwerk von rund 1000 Plakaten die schweizerische, aber auch internationale Plakatlandschaft enorm belebt und mitbestimmend akzentuiert hat. «Leupin bewundere ich noch heute für seinen Wort- und Bildwitz», meint Jeker.
«Leupin bewundere ich noch heute für seinen Wort- und Bildwitz.»
Werner Jeker
Landigeist
Dann die heile Welt der nostalgischen Bildsprache von Albert Steiner. Viele seiner Plakate erschienen im Kontext der Geistigen Landesverteidigung. Die Schweizerische Landesausstellung in Zürich (Landi) von 1939 liess einen bodenständigen und konservativeren Typ Plakatwerbung aufkommen, der das Bild einer idyllischen und archaischen Schweiz transportierte. Gleichzeitig führte die Schweiz an der Landi ihre profiliertesten Grafiker vor und demonstrierte damit ihre Vorreiterstellung im Grafikdesign, den «Swiss Style». Es heisst, dass Nationalstolz und Selbstbehauptungswille während des Zweiten Weltkrieges zu mehrheitlich belanglosen Plakaten geführt hätten. «Gefordert waren die Plakatkünstler dann wieder», so Jeker, «als nach dem Zweiten Weltkrieg der bezahlte Urlaub für breite Schichten aufkam, sich sukzessive eine Erlebnisgesellschaft etablierte.» Nun findet die Fotografie zu neuer Popularität. Es ist auch die Stunde der Adelbodner Fotografen Gyger & Klopfenstein (Titelbild mit winkender Frau), die mit ihren Adelboden-Plakaten eine Projektionsfläche paradiesischer Sehnsüchte schufen.