Bahnromantik und majestätische Berge
24. Juni 2016 – Mit Roland Flückiger sprach Franziska Richard
Bergbahnen ziehen die Menschen in ihren Bann wie kaum ein anderes Transportmittel. Warum das so ist, weiss der Architekturhistoriker Roland Flückiger, ein grosser Kenner der Schweizer Tourismusgeschichte.
Bergbahnen sind beliebte Postkartensujets. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Sie sind ein Symbol für Schweiz-Ferien. Manchmal auch ein Statussymbol. Dieses zeigt man den Daheimgebliebenen natürlich gerne.
Die Fahrt selbst ist gar nicht so wichtig?
Doch! Die gefällt natürlich auch. Je nachdem ist sie ja sehr spektakulär: In der Rigi-Bahn sitzen Sie in der ältesten europäischen Zahnradbahn, in der Bahn auf den Pilatus in der steilsten der Welt. Mit der Jungfrau-Bahn lässt man sich auf die höchste Bergstation Europas katapultieren. Doch auch Bahnen ohne diese Superlative faszinieren die Menschen, weil sie ihnen die Bergwelt erschliesst, die sie aus eigener Kraft vielleicht nicht erreichen können. Diese Faszination war früher natürlich noch grösser.
«1880 wurden in der Schweiz 800'000 Personen in Bergbahnen transportiert, 30 Jahre später waren es 7 Millionen.»
In welcher Zeit wurde das Bergerlebnis entdeckt?
Das Bergsteigen kam in den 1860er-Jahren auf und war einer kleinen, privilegierten Gesellschaftsschicht vorbehalten. Grundsätzlich fürchtete man sich bis ins 18. Jahrhundert vor den Bergen. Mit der Erfindung der Bergbahn um 1870 wurde diese Furcht endgültig überwunden. Der Mensch besiegte die Natur. Damit wurde der Alpenraum für breitere Schichten zugänglich – es war zugleich die Geburtsstunde des Schweizer Tourismus.
Sie schreiben von einem Bergbahnenboom in den 1880er-Jahren. In welchen Dimensionen muss man sich den vorstellen?
Er war gewaltig. 1880 wurden in der Schweiz 800'000 Personen in Bergbahnen transportiert, 30 Jahre später waren es 7 Millionen. In dieser Zeit entstanden ca. 60 Bahnen, eine in keinem anderen Land erreichte Dichte. Diese – als Zahnrad- und Drahtseilbahnen betrieben – führten die Touristen spazieren, auf Aussichtsberge, zu Wasserfällen, an die Quais der Seen oder zu den Hotelpalästen in erhöhter Lage. Die höchste Dichte an Bahnen wiesen das Berner Oberland, die Genferseeregion und die Zentralschweiz auf. Die Bergbahnen im westlichen Oberland kamen später, so wie auch die Hotels dort erst um die Jahrhundertwende entstanden. Wirtschaftskrisen und die beiden Weltkriege stellten für die Bahnen Zäsuren dar, ansonsten waren es Goldgruben.
Hatten Hoteliers und Bahnkonstrukteure ein gemeinsames Interesse an der Tourismusentwicklung?
Die Hoteliers waren sehr oft die treibenden Kräfte. Gewisse gehörten sogar zu den Erbauern wie der Nationalrat und Hotelier Fritz Seiler aus Interlaken, der ein Pneudruckluftsystem vorschlug. Doch auch der Bund machte sich stark für die touristische Entwicklung. Kaum waren die Eisenbahnlinien zu den touristischen Zentren gebaut, wollte man mit der Eisenbahn die Berge erklimmen. Der damals von liberalen Kräften dominierte Bundesrat lancierte 1859 einen Ideenwettbewerb.
«Zur Eröffnungsfeier der Rigi-Bahn erschien der Bundesrat beinahe in corpore.»
Mit welchem Echo?
Einem sehr grossen. 20 Projekte wurden eingereicht, die sich in ihrer Originalität übertrafen. So wurden Einschienenbahnen vorgeschlagen oder Lokomotiven mit 12 Triebrädern, gar eine Lufballonbahn und erste Zahnradsysteme. Keine dieser Ideen konnte sich durchsetzen. Vorarbeit wurde gleichwohl geleistet: 1871 wurde mit der Rigibahn die erste Zahnradbahn Europas von Niklaus Riggenbach erbaut. Zur Eröffnungsfeier erschien der Bundesrat beinahe in corpore.
Ein Ereignis?
Ja, und was für eines! Man war sehr stolz auf Leute wie Riggenbach. Sie galten als sehr mutig und wurden als Pioniere und Erfinder gefeiert. Zwar wurde die erste Zahnradbahn auf dem Mount Washington in den USA gebaut, doch Riggenbach fand zu einer weiterentwickelten Technik. Das Locher-Zahnradsystem, benannt nach dem Ingenieur Eduard Locher, ermöglichte den Bau der Pilatus-Bahn als steilste Bahn der Welt. Der Innerschweizer Josef Durrer erfand die Fangbremse als wichtige Sicherheitsvorkehrung für die Drahtseilbahnen. Diese waren sehr sicher, es ereigneten sich keine Unfälle. Über jeden Zweifel erhaben waren sie dennoch nicht. Es gab auch heftige Kritik.
Woran?
Am Übermass. Bergführer und Maultierbesitzer fühlten sich in ihrer Existenz bedroht. Als Kondukteur arbeiten zu gehen, verletzte ihren Berufsstolz. Auch seitens des Heimatschutzes kam heftiger Widerstand. Dieser verhinderte mit Erfolg die geplanten Bahnen auf das Matterhorn, den Eiger und auf Les Diablerets. Diese grössenwahnsinnigen Projekte haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Der Heimatschutz bekämpfte auch die Hotelpaläste und die überdimensionierte Schokoladenplakatwerbung in den Kurorten.
«Interessanterweise holt man heute Stararchitekten wie Mario Botta.»
Diese Ära ist endgültig vorbei. Sind Sie als Schwärmer dieser goldenen Zeit etwas wehmütig?
Tatsächlich werden aufgrund der strengen Gesetzgebung in den Bergen praktisch keine neuen Bahnen mehr gebaut, die 1967 eröffnete Luftseilbahn aufs Schilthorn war die letzte Neuerschliessung in der Schweiz. Die Bautätigkeit beschränkt sich weitgehend auf Renovationen. Sicher ist es schade, dass der Fokus in den letzten Jahrzehnten sehr stark auf der Kapazitätssteigerung lag. Das ästhetische Erlebnis, das Bergerlebnis, blieb ziemlich auf der Strecke. In offenen Wagen sitzen können mit Wind in den Haaren – dieses Erlebnis haben die Pioniere ihren Fahrgästen natürlich geboten.
Haben wir diese nüchterne Zeit bald überwunden?
Vielleicht. Interessanterweise holt man heute Stararchitekten wie Mario Botta, um sie mit dem Entwurf von Luftseilbahnen zu beauftragen, wie dies in Les Diablerets und Locarno-Cardada geschah. Gleichzeitig besinnen sich gewisse historische Bahnen auf ihre Geschichte. Die Schynige-Platte-Bahn beispielsweise hat vor einigen Jahren zusammen mit der kantonalen Denkmalpflege historisches Rollmaterial fachgerecht restauriert und neue Wagen nach alten Vorbildern nachgebaut. Zudem fahren alle Züge mit den ersten elektrischen Lokomotiven von 1914.
Zur Person | Roland Flückiger-Seiler, Architekt und Architekturhistoriker, hat an der ETH studiert und promoviert. Tätigkeit als Denkmalpfleger sowie als selbständiger Experte und Forscher zur Schweizer Architekturgeschichte (unter anderem Nationalfondsprojekt zur Hotelgeschichte), Initiant verschiedener Aktivitäten im Umfeld historischer Hotels («Das historische Hotel des Jahres», «Swiss Historic Hotels» und «Hotelarchiv Schweiz»). Zahlreiche Publikationen und Lehraufträge. Autor der Bücher «Hotelträume zwischen Gletschern und Palmen» und «Hotelpaläste zwischen Traum und Wirklichkeit» im Verlag Hier + Jetzt. Sein neustes Buch «Berghotels zwischen Alpweide und Gipfelkreuz» beschreibt in Wort und Bild die Eroberung der Schweizer Bergwelt durch Hotelbauten und Bergbahnen.